Dr.med. Ursula Davatz, Zeno Davatz
Vortrag vom 25.4.2006 Familienforum Münchenstein, aktualisiert am 8.10.2021
Einleitung
Mobbing ist ein Gruppenphänomen. Eine dysfunktionale Gruppe hat die Tendenz, alle Probleme auf ein von der Gruppe ausgewähltes Individuum zu projizieren und dieses Individuum als Projektionsobjekt von der Gruppe auszuschliessen. Mobbing wurde schon in der Bibel beschrieben und dort mit dem Begriff des «schwarzen Schafs» oder «Sündenbocks» bezeichnet. Das Mobbing oder Sündenbockphänomen stellt eine Art Säuberungsoder Ausscheidungsunterfangen der Gruppe dar. Sie versucht über den Sündenbock die anstehenden Probleme loszuwerden. Ist der Sündenbock aus der Gruppe entfernt und findet dabei zugleich kein Umdenken oder Umstrukturierungsprozess in der Gruppe statt, so fokussiert die Gruppe ihr dysfunktionales Verhalten wieder auf ein neues schwarzes Schaf und schiesst sich auf einen neuen Sündenbock ein. Mobbing bringt immer eine Führungsproblematik zum Vorschein. Bei unklaren Führungsverhältnissen tritt Mobbing auf. Mobbing kann in Familien, politischen Gruppierungen, Vereinen und natürlich auch in Schulklassen vorkommen.
Welche Kinder werden eher als Mobbing-Opfer oder Sündenbock gewählt?
– Alle Individuen, die in irgendeiner Weise aus der Gruppe hervorstechen, können davon betroffen werden.
– Besondere äussere Merkmale, wie rote Haare, Sommersprossen, abstehende Ohren, Adipositas, Kleinwuchs, Grosswuchs, besondere Frisuren, besondere Kleider etc. – Auffallendes Verhalten kann ebenfalls zum Fokus werden wie: viel reden, immer dreinreden, nicht stillsitzen können, der Zappelphilipp oder das Gegenteil wie nie reden, besonders scheu sein, im Turnen ungeschickt sein etc. ADHS-Kinder ziehen häufig diese Art von negativer Aufmerksamkeit auf sich.
– Intellektuelles Verhalten kann auch zum Anziehungspunkt werden: Streber oder besonders intelligente Kinder, die meist die Lieblinge der Lehrer sind, können ausgegrenzt werden, aber auch Kinder, die mehrheitlich eine unbefriedigende intellektuelle Leistung an den Tag legen.
– Kinder besonderer Herkunft können ebenfalls zur Zielscheibe werden wie die Zugehörigkeit zu einer anderen ethnischen Gruppe oder zu einer anderen Religion, Kinder anderer Hautfarbe oder ökonomische Unterschiede wie besonders reich oder auffallend minderbemittelt sein.
– Der Helfertyp kann ebenfalls gemobbt werden. Kinder, die besonders sensibel sind und soziale Probleme in der Gruppe schneller bemerken als andere, reagieren auf die Dysfunktion in der Gruppe auch schneller. An sich wollen sie der Gruppe helfen über ihre Reaktion. Da man ihre Hilfsaktionen aber häufig nicht richtig erkennt, dreht sich der Spiess dann plötzlich um, und sie werden zum Sündenbock, zum Mobbingopfer. Sensible ADS-Kinder finden sich leicht in dieser Position vor.
Was können und sollen Eltern tun, wenn ihr Kind gemobbt wird?
– Eltern sollen sich als erstes vom Kind die Situation möglichst genau schildern lassen, ohne dabei gleich Partei zu beziehen für das Opfer und gegen die Täter.
– Nicht gleich eine Lösung herbeiführen wollen. Das Kind nicht einfach zur Anpassung auffordern, damit es nicht mehr aus der Gruppe heraussticht.
– Wenn sich die Eltern ein klares Bild von der Situation gemacht haben, sollen sie unverzüglich mit dem Lehrer Kontakt aufnehmen.
– Beim Treffen mit dem Lehrer sollen sie nicht gleich Partei ergreifen für ihr Kind und gegen die Täter, denn dadurch zwingen sie die Lehrer in die «Richterrolle».
– Vielmehr sollen die Eltern den Lehrer danach fragen, wie er die Situation beurteilt. In einem zweiten Schritt sollen beide Seiten dann gemeinsam das weitere Vorgehen erarbeiten. Dabei sollen die Eltern darauf achten, den Lehrer bei der Ausführung zu unterstützen, denn wie gesagt, Mobbing ist Führungssache. Der Lehrer muss gestärkt werden in seiner Führungsrolle.
– Ein juristisches Handhaben des Sündenbockphänomens oder Mobbings stoppt den Mobbingprozess nicht an seiner Wurzel. Ein Aufspalten in Täter und Opfer hilft nur kurzfristig, das dysfunktionale Kollektiv der Klasse zu unterbrechen. Dies kann im Gegenteil dazu beitragen, den Mobbingprozess womöglich noch zusätzlich zu verschärfen, weil es den Konflikt intensiviert und eskaliert, statt deeskaliert.
– Betrachtet man die Geschichten von Mobbingopfern, kann man oft feststellen, dass frühere Opfer später zu Täter werden. Die Kette Opfer-Täter-Opfer-Täter reisst also nicht ab, und man kann durch Bestrafung dem Mobbingprozess kein Ende setzen.
– Um das Mobbing zu unterbinden, muss ein neuer Gruppenprozess in Gang gebracht werden über eine klare, wohl ausgewogene und gleichzeitig starke Führung der Gruppe mit eindeutigen sozialen Regeln.
– Dies kann durch dafür ausgebildete Fachpersonen unterstützt werden oder von den Eltern und Lehrern, sowie Schulbehörden auch allein bewältigt werden.
– Ist ein Kind als Mobbing-Opfer schon allzu sehr unter die Räder geraten, muss es zu seinem Schutz aus dem Kollektiv herausgenommen werden.
– Dies soll jedoch sowohl für das Kind, wie auch für die Gruppe immer nur die letzte Lösung, die «ultima ratio» sein. Das Kollektiv wird dadurch schuldig gemacht und kann diese Schuld nie mehr gut machen. Das gemobbte Kind verlässt die Gruppe als Verlierer, eine Rolle, die bei ihm tief verankert wird und sein weiteres Verhalten prägt.
– Die Auflösung der Mobbing-Situation durch eine bessere Führung und Strukturierung der Gruppe ist die beste Lösung für beide Seiten und leitet zum Heilungsprozess über, sodass die Mitglieder wieder besser als Gruppe funktionieren.
Wie wollen sie ihr Kind sozialisieren?
Zum Abschluss stellt sich die Frage: Welche Vorstellungen und Wünsche haben die Eltern, wie wollen sie ihr Kind sozialisieren?
– Möglichst kompetitiv, damit es sich im Wettkampf der globalisierten Weltwirtschaft möglichst erfolgreich durchsetzt?
– Möglichst sozial, weil sie wollen, dass es einen Helferberuf wählt, weil auch sie sehr sozial ausgerichtet sind?
– Möglichst angepasst, damit das Kind ja nicht herausragt aus dem Kollektiv und so weniger Gefahr läuft zum Mobbing-Opfer zu werden?
– Möglichst autonom und eigenständig, so dass es lernen muss, Kritik zu ertragen und eventuell Gefahr läuft einmal Mobbing-Opfer zu werden?
Schlussbemerkung
Je nachdem, welches Sozialisierungsideal die Eltern für die Erziehung ihres Kindes bevorzugen, sie entscheiden damit letztlich auch darüber, in welche Ausnahmesituation ihr Kind geraten kann. Entsprechend der Auswahl und der Anwendung des Erziehungsstils wird der Umgang mit der Mobbing-Situation ihres Kindes für sie als Eltern, für den Lehrer oder die Fachperson ein anderer sein.